«Wir wollen keine Märtyrer»

Warum die Unia beim Swissmetal-Werk in Reconvilier eine andere Meinung vertritt als die Personalkommission.

Source : espace.ch/der Bund
Date : vendredi 23 juin 2006
Auteur : Hans Galli
Copyright : Der Bund
Am Montag stimmt die Swissmetal-Belegschaft in Reconvilier über die Expertenvorschläge ab. Renzo Ambrosetti, Ko-Präsident der Gewerkschaft Unia, erläutert, warum er im Gegensatz zur Betriebskommission für ein Ja kämpft.
«Bund»: Vor kurzem haben Sie noch gemeinsam mit dem Personalkommissionspräsidenten des Swissmetal-Werks Reconvilier Pressekonferenzen und Demonstrationen organisiert. Jetzt sind Sie offenbar nicht mehr gleicher Meinung. Was ist geschehen?

Renzo Ambrosetti: Wir haben als Gewerkschaft – zusammen mit der Betriebskommission und der Belegschaft – ein Ziel: Der Standort Reconvilier muss erhalten bleiben – mit möglichst vielen qualitativ hochstehenden Arbeitsplätzen. Wir erachten die Vorschläge des Experten Jürg Müller als sinnvolle Basis, um dieses Ziel zu erreichen.

Was führt Sie zu diesem Urteil?


Es ist unübersehbar: Die Vorschläge gehen in dieselbe Richtung wie die Forderungen von Belegschaft und Unia. Die Giesserei bleibt vorerst in Betrieb, es müssen mehr Stellen wieder besetzt und Kaderleute wieder eingestellt werden, ein genügend grosses Rohwarenlager ist nötig und an der Spitze des Werks soll ein Leiter stehen, welcher das Vertrauen der Angestellten hat. Das ist für die Belegschaft, die in den Streik getreten ist, ein erster Erfolg.

Wo liegen die Differenzen zwischen Betriebskommission und Unia?

Bei der Belegschaft herrscht verständlicherweise immer noch grosses Misstrauen gegenüber der Swissmetal-Leitung vor. Das ist bei der Unia nicht anders. Wenn Konzernchef Hellweg entgegen den

Vorschlägen des Industrieexperten ankündigt, seine Strategie ohne Wenn und Aber durchziehen zu wollen, giesst er einmal mehr Öl ins Feuer. Kein Wunder, fällt es der Belegschaft schwer, das verlorene Vertrauen in die Geschäftsleitung wieder zu finden. Wir spüren aber trotzdem, dass ein grosser Teil der Angestellten gewillt ist, auf die Vorschläge des Industrieexperten einzutreten. Dass das nicht ohne Spannungen und harte Debatten geht, ist doch ganz normal.

Warum sind Sie überzeugt, dass die Vorschläge erfolgreich umgesetzt werden können?

Wir sind überzeugt, dass man diese Vorschläge umsetzen muss. Wir sehen keine Alternative. Wir können Swissmetal nicht zwingen, den Betrieb zu verkaufen, und eine faktische Schliessung – wie sie Hellweg schon mehrmals angedroht hat – ist sicher nicht im Interesse der betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir wollen keine Märtyrer, sondern setzen uns dafür ein, dass die Menschen einen Arbeitsplatz haben und ihre Familien ernähren können.

Wie gut kennen Sie den Bericht Müller überhaupt?

Die Analyse ist ein dickes Buch – das haben wir nicht erhalten. Der Experte hat uns seine wichtigsten Einschätzungen präsentiert. Diese bestätigen unsere Positionen, und sie decken sich mit dem, was die Kunden der Swissmetal sagen. Grosse Kunden sind seit langem überzeugt, dass Swissmetal mit ihrer Strategie und ihrer Art der Umsetzung gegen die Wand fährt.

Die Konzernleitung hat die Vorschläge ebenfalls gutgeheissen. Ist das Ihrer Meinung nach ein ehrliches Bekenntnis?

Die Ehrlichkeit wird sich bei der Umsetzung zeigen. Der erste Knackpunkt ist die Einstellung des Werkleiters. Wenn die Konzernleitung schon jetzt jemanden als Direktor des Werkes in Reconvilier bestimmt, der von der Belegschaft nicht akzeptiert wird, sind wir keinen Schritt weiter.

Welche Rolle spielt die vorgeschlagene Begleitgruppe?

Im Jahr 2004 schlossen die Berner Volkswirtschaftsdirektorin und die Betriebskommission mit der Swissmetal-Führung ein Abkommen ab, ohne eine Begleitgruppe einzusetzen. Das hat sich als Fehler erwiesen. Die Begleitgruppe muss in Fällen wie der Wahl des Werkleiters dafür sorgen, dass eine einvernehmliche Lösung gefunden wird.

Wer gehört in diese Begleitgruppe?

Sie muss aus unabhängigen Mitgliedern bestehen und gemeinsam mit den Konfliktparteien nach Lösungen suchen. Sicher muss Mediator Rolf Bloch dazugehören.

Wie beurteilen Sie seine Arbeit?

Rolf Bloch hat als Mediator hervorragende Arbeit geleistet. Er hat grösste Anstrengungen unternommen, damit die beiden Parteien wieder miteinander sprechen können. Andere hätten den Bettel wohl längst hingeworfen.

Die Vorschläge des von Bloch eingesetzten Experten bedeuten jedoch keine langfristige Existenzgarantie des Standorts Reconvilier.

Wo gibt es heute noch eine Existenzgarantie für einen Standort? Das gibt es nicht einmal bei den Grossbanken und den Pharmakonzernen mit ihren Milliardengewinnen. Ich bin aber überzeugt, dass das Werk Reconvilier mit dem vorgeschlagenen Weg wieder eine Zukunft hat. Wie gut sie sein wird, hängt von der Qualität der Arbeit ab, vom Markt und der Zufriedenheit der Kunden. Die Kunden warten, dass sie endlich beliefert werden.

Ein Auslöser für den Streik war die geplante Schliessung der Giesserei. Diese soll gemäss Müller vorläufig weiterbetrieben werden. In einigen Jahren wird sie aber wahrscheinlich definitiv geschlossen. Akzeptiert die Unia diese Pläne?

Das Wichtigste ist jetzt doch, dass die Giesserei nun weiterbetrieben wird, was eine zentrale Forderung der streikenden Belegschaft war. Wie lange, hängt vom Markt und der Qualität der geleisteten Arbeit ab. Vielleicht zeigt sich aufgrund der Marktentwicklung, dass die Giesserei und die Presse in Reconvilier rentabel sind. In diesem Fall müsste die Konzernleitung durchaus zu einer Änderung ihrer Strategie bereit sein. Auch andere Betriebe passen ihre Strategien aufgrund neuer Erkenntnisse an.

Sie haben die Strategie der Swissmetal kritisiert. Oliver Fahrni, Journalist bei der Gewerkschaftszeitung «Work», schreibt in einem Buch, das im Herbst erscheint, in Reconvilier hätten die Angestellten erstmals nicht für mehr Lohn, sondern gegen eine Strategie gestreikt. Heisst die neue Gewerkschaftspolitik: Kampf gegen falsche Unternehmensstrategien?

Selbst wenn man sich formaljuristisch auf den Standpunkt stellen kann, die Firmenleitung sei allein für die Strategie zuständig,

werden wir auch in Zukunft nicht tatenlos zusehen, wie ein industrieller Betrieb gegen die Wand gefahren wird und Hunderte von Arbeitsplätzen vernichtet werden. Es geht dabei um den Erhalt des industriellen Werkplatzes Schweiz. Deshalb ist dieser Einsatz nicht nur legitim, sondern auch ganz im Sinn und Geist der gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen.

Da wagt sich die Unia aber aufs Glatteis, wenn sie behauptet, sie wisse besser als die Firmenspitze, was gut für ein Unternehmen ist.

Nicht nur Unia, sondern auch die Kunden, das sind auch Unternehmer, kritisieren die Strategie von Swissmetal aufs Schärfste. Im Gesamtarbeitsvertrag der Maschinenindustrie steht zudem, dass die Mitarbeitenden eine Mitsprache haben, wenn Massnahmen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze haben. Bei der Swissmetal hat diese Mitsprache ganz und gar nicht funktioniert. Wir wurden stets vor vollendete Tatsachen gestellt. Und deshalb ist es nur richtig und konsequent, wenn sich Belegschaft und Gewerkschaft gegen solche Abbaustrategien wehren.

Obwohl die Swissmetal 35 Personen wieder eingestellt hat, gibt es in Reconvilier immer noch über 80 Entlassene. Signalisiert die Konzernleitung mittlerweile Bereitschaft zu einem Sozialplan?

Nein, der Sozialplan ist für Hellweg aus unverständlichen Gründen noch immer kein Diskussionsthema. Er will dafür kein Geld zur Verfügung stellen. Wir haben deshalb die im GAV vorgesehenen Massnahmen eingeleitet. Als erster Schritt ist eine Verhandlungsrunde zwischen den Sozialpartnern vorgesehen. Wenn man sich nicht einigt, kommt das Schiedsgericht zum Zug.

Die Arbeitgeberverbände haben der Unia wegen ihrer Unterstützung des Streiks in Reconvilier angedroht, sie werde als Sozialpartnerin nicht mehr ernst genommen. Trifft sie dieser Vorwurf?

Er trifft mich höchstens, weil er unberechtigt ist. Wir haben alles unternommen, um eine Lösung zu erreichen. Wenn wir uns nicht gewehrt hätten, wäre in Reconvilier alles schlimmer herausgekommen. Sozialpartnerschaft ist im Übrigen nicht nur Sache der Unia. Sozialpartnerschaft bedeutet, dass auch die Arbeitgeberseite eingreift, wenn ein Konflikt aus dem Ruder zu laufen droht. Im Fall Reconvilier ist der Arbeitgeberverband Swissmem vor die Türe gestellt worden – nicht durch uns, sondern durch sein Mitglied Swissmetal. Leider hat Swissmem das einfach so akzeptiert.

Welche Erfahrungen nehmen Sie als Ko-Präsident der Unia aus dem Fall Reconvilier mit?

Er zeigt die Grenzen der Sozialpartnerschaft auf. Der Konflikt spielt sich in einer Grauzone ab, in welcher man nicht nach Rezeptbuch vorgehen kann. In einem solchen Fall müssen die Sozialpartner bereit sein, über ihren Schatten zu springen. Auch in den Beziehungen zwischen der Unia und der Betriebskommission hat es Spannungen gegeben – nicht erst wegen des Expertenberichts. Als ich mich für das Ende des Streiks und den Einstieg in die Mediation einsetzte, erhielt ich keinen Applaus.

Welches Abstimmungsresultat erwarten Sie an der Betriebsversammlung von Anfang nächster Woche in Reconvilier?

Ich setze mich dafür ein, dass die Betriebsversammlung den Expertenvorschlägen zustimmt. Danach müssen die Einzelheiten für die Umsetzung im Rahmen der Mediation vereinbart werden. Dieser Weg ist keine vollumfängliche Rückkehr zur Vereinbarung von 2004, aber er geht eindeutig in die selbe Richtung. Wichtig ist natürlich auch, dass die Konzernleitung die Stimmung im Vorfeld der Abstimmung nicht wieder anheizt.

Wenn es trotzdem ein Nein geben sollte – was wären die Folgen?

Wir unternehmen alles, damit das nicht passiert. Wir sind überzeugt, dass ein Ja das Beste für die Erhaltung der Arbeitsplätze, für die Kunden und für deren Arbeitsplätze ist.


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Der Bund du 23.06.06 - Interview de Renzo Ambrosetti.pdf 128.57 KB
Unia se veut pragmatique et attend des efforts de la direction

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Actualisé le 19.11.06 par webmaster
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